Um es gleich vorweg zu nehmen, für Schnell war die Quarantäne anfangs ein Segen. In der ersten Woche wurde mal kräftig losgelassen. Der Kühlschrank in Reichweite, die Weinvorräte aufgefüllt, die Internetverbindung verlässlich, gab es keinen Grund, den Ernst der Lage nicht positiv zu sehen. Nach der Eingewöhnung wurde bald klar, dass die 4 projektierten Wochen nicht ausreichen würden und man sich auf mehr gefasst machen musste. Schnell analysierte und begriff, dass er einen Plan brauchte. Nicht nur während der Arbeitswoche, in der er durchaus tätig war, sondern besonders am Wochenende, das ja normalerweise aus zwei Tagen besteht. Ohne ins Büro zu fahren, kam ihm das aber bald nicht mehr so vor. Er schlief länger als normalerweise, ein Luxus, den er sich gönnte. Dann arbeitete er, freute sich über ein Frühstück mit seiner Frau und benutzte die Pausen, um Krafttraining zu machen, im Jacuzzi zu sitzen und zu kochen. Das Haus hatte genügend Zimmer, um sich eine Auszeit nehmen zu können, selbst wenn es regnete.
Nach 4 Wochen wusste man bereits, dass es mindestens 8 werden würden. Spanien war ein großes Land, in dem sich die Leute gerne umarmten und Madrid war besonders stark betroffen.
In Schnell fasste der Gedanke Fuß, dass dieser Tagesablauf ihn gesund machte. Die Freiheit über seine Zeit entscheiden zu können, Aufgaben, die man stressfrei erledigen konnte, eingebunden zu sein in eine Gesellschaft, die man nicht treffen musste, Schnell war glücklich. Und er fing an, eingehend darüber nachzudenken, wie er diesen Zustand beibehalten konnte. Er malte sich ein Leben aus, in dem er keinen Job mehr hatte und gemeinsam mit seiner Frau in einem schönen Haus wohnte, mit einem Garten davor, damit sie glücklich war, zwei, drei Hunde, mehrere Katzen, Olivenöl, laue Herbstabende, ein Glas Wein. Er atmete.
In Woche sechs hörte er damit auf und die Unzufriedenheit kehrte wieder ein. Man weiß nicht genau, woher sie gekrochen kommt, aber sie lässt sich nicht abschütteln. Schnell fand Kleinigkeiten, über die er sich aufregen konnte. Zuerst waren es nur schmutzige Teller und verknüllte Decken, doch bald waren es faule Kinder und eine angespannte Ehefrau. Woher das kam ist wie immer ungeklärt, doch die Entladung ließ nicht lange auf sich warten. Das Gewitter dauerte 39 Stunden, die Nachwirkungen dementsprechend lange. Fest steht, man nimmt sich überall hin mit, auch im Paradies regnet es und Spanien hatte in diesem Sommer genügend Wasser in seinen Staudämmen, um die iberische Halbinsel mit Strom zu versorgen.
Und Schnells Frau? Sie schüttelte den Kopf, wie man es macht, wenn man das Genick lockern will. Man möchte verstehen, woran es liegt. In ihrem Fall wollte sie herausfinden, warum Leute ihre Erkenntnisse immer mitteilen mussten. Diese Mitteilungsgeilheit war offensichtlich durch die Quarantäne noch verstärkt worden. Deswegen schüttelte sie den Kopf, um ihn besser zu durchbluten und damit die Denkfähigkeit zu stärken. Das gleichzeitige Ausblasen von viel Luft aus der Lunge führt zu einer Verstärkung des Effektes. Es erhöht die Wachsamkeit und schüttelt die Gedanken in eine Reihe. Schnells Frau schüttelte und atmete, sie atmete tief.
Dann runzelte sie die Stirn. Die ganze Welt war in der Quarantäne zur Hausfrau geworden und während die wirklichen Hausfrauen früher nicht besonders angesehen gewesen waren, weil es ja so langweilig war, den ganzen Tag zu Hause zu sitzen, zu putzen, zu nähen, zu kochen, zu lesen und zu turnen, so waren sie heute im Zentrum einer weltumspannenden Ära des entschleunigten Lebensstils, Zeit habender Menschen, die Zeit einfach verstreichen lassen konnten, die da draußen nichts fanden und nichts in sich, denn im Grunde standen alle vor der gleichen Langeweile – mit Ausnahme der armen Menschen, die erkennen mussten, dass sie ohne das da draußen gar nicht überleben konnten und die nicht Langeweile sondern Angst verspürten. Und wie man es auch drehte und wendete, mit Trainingsplänen dagegen ankämpfte oder mit dem 15ten Antidepressionskuchen, mit viel Schlaf oder Ausmisten, das moderne Leben ist nur deswegen interessant, weil man so viel tun kann, dass man immer das Gefühl hat, etwas zu versäumen.
Und Schnells Frau wusste, wie viele andere, dass es wieder genauso werden würde. Allen Untergangsrufern zum Trotz, würden natürlich alle wieder zurückkehren in das Hamsterrad, die Urlaubsparadiese und die Kulturmaschinerie. Es würde sogar schlimmer werden als vor der Krise, denn die Leute werden sehr schnell vergessen wollen, dass sie diese Gedanken überhaupt hatten. Der Mensch kann nicht existieren, wenn er die Sinnlosigkeit des Lebens ständig vor Augen hat und die Ablenkung ist ein Paradigma, dass zu jeder Zeit gut funktioniert hat. Also beschloss Schnells Frau jeden Artikel, der ihr ins Auge stach, zuerst am Ende zu lesen. Waren Reizwörter wie „eine neue Zeit“, „noch nie dagewesen“, „angebrochen“, „Besinnung“ oder „Erkenntnis“ abgedruckt, las sie ihn nicht. Es ist ihr viel erspart geblieben.
Anne Fuchs